14.02.2022 Im Liebfrauenhaus finden junge Menschen, „Einzigartig ist viel besser als perfekt“ steht da in geschwungener Schrift an der Wand auf dem Flur. Tatsächlich ist hier kein Schicksal wie das andere, jedes Kind hat einen anderen Hintergrund, andere Erfahrungen, andere Defizite. Und doch: Nicht selten kommt nach einem langen, häufig anstrengenden und steinigen Weg ein Punkt, an dem deutlich wird, dass sich die gemeinsame Anstrengung gelohnt hat und eine Perspektive sichtbar wird. Solche Momente lassen Sozialpädagogin Carina Jung von der Stationären Jugendhilfe am Liebfrauenhaus in Herzogenaurach spüren, dass ihre Arbeit, die nicht selten an die Substanz geht, Früchte trägt. So wie bei Chiara, die heute zu Besuch ist und sich an ihr „früheres Leben“ in der Wohngruppe erinnert. Chiara(r.) erinnert sich gemeinsam mit Pädagogin Carina Jung an ihre Zeit in einer Wohngruppe im Liebfrauenhaus. Foto:Ulrike Schwerdtfeger Die 21-Jährige genießt es, mit ein paar Frühaufstehern Uno zu spielen und dass es in der Küche nach frischen Brötchen riecht. „Es ist ein bisschen wie nach Hause kommen“, findet die junge Frau. Obwohl die Zeit im Heim nicht immer leicht war. Heute, mit etwas Abstand, weiß sie: „Das war eine ganz wichtige Etappe meines Lebens.“ Fröhlich scherzt sie mit den Kindern am Tisch herum, wirkt gelöst und in sich ruhend, zufrieden mit dem und stolz auf das, was sie geschafft und zum Teil auch hinter sich gelassen hat. Wie etwa das Ritzen an Armen und Beinen. Teils so heftig, dass sie immer wieder genäht werden musste. Chiara lebt heute in einer eigenen Wohnung, hat 2020 die Ausbildung zur Kinderpflegerin beendet, arbeitet Vollzeit in einer Krippe, möchte gerne noch die Erzieherinnen-Ausbildung dran hängen. Knapp zehn Jahre ist es her, dass sie – völlig unerwartet – in eine der Wohngruppen des Liebfrauenhauses eingezogen ist. Damals war das Jugendamt auf ihren zwei Jahre älteren Bruder aufmerksam geworden, bemerkte dabei auch Chiaras schwieriges Verhältnis zu ihrem teils gewalttätigen Stiefvater und, dass das Mädchen unter dem Tod des Vaters litt, der an einer Überdosis gestorben war, als sie fünf war. „Auch wenn es zu Hause noch so bescheiden lief und meine Mutter mit der Situation sicherlich hoffnungslos überfordert war: Als Kind will man trotz allem intuitiv bei seiner Mama bleiben“, sagt Chiara nachdenklich. Damals hatte sie trotzdem den Schritt ins Ungewisse gewagt, war in die Wohngruppe gezogen, wo sie zunächst große Probleme hatte, sich ein- und unterzuordnen. „Ich war die Neue im Haifischbecken und eckte überall an, fühlte mich komplett aus der Bahn geworfen“ erinnert sie sich. Chiara (r.) lebt heute in einer eigenen Wohnung und arbeitet als Kinderpflegerin in einer Krippe. Foto:Ulrike Schwerdtfeger Erstmal habe sie alles nur „angekotzt“: Das Handy gab es nur zu bestimmten Zeiten, Rauchen war tabu, alles funktionierte nur mit Absprachen und Schule lief auch nicht rund. „Die Hilfe, die mir angeboten wurde, lehnte ich ab, ich machte total dicht“, sagt Chiara und erinnert sich an Reittherapie und Pflegepferd. Damals lernte sie zum Vergleich eine geschlossene Einrichtung kennen, für sie rückblickend eine heilsame Erfahrung: „Ich dachte mir: Aufwachen! Da, wo du jetzt bist, hast du es doch eigentlich echt gut.“ Sie verliebte und trennte sich das erste Mal, befand sich sozial und emotional auf Achterbahnfahrt, hatte zunehmend das Bedürfnis, sich selbst intensiver spüren zu müssen, fing an sich selbst zu verletzen. Nachts ließen die Gedanken an Mutter und Stiefvater sie nicht schlafen, so genannte „Flashbacks“ brachten das Mädchen an die Grenze des Erträglichen, nicht selten verbrachte eine Erzieherin die Nacht an ihrem Bett. „Ich habe mich selbst nicht wertgeschätzt“, erinnert sich Chiara. „Wenn ich mich ritzte oder weglief, dass die Polizei nach mir suchen musste, hatte ich anschließend ein schlechtes Gewissen.“ Die Bitterkeit über diese schwere Zeit, in denen sich die Tiefpunkte häuften, hat sie hinter sich gelassen, das einst „toxische Verhältnis“ zu ihrer Mutter habe sich entspannt, erzählt Chiara. Im Laufe einiger Therapien habe sie sich einen „Werkzeugkoffer“ mit bestimmten Skills wie Achtsamkeitsübungen zusammen gestellt, auf die sie jederzeit zugreifen könne und der ihr helfe, mit für sie kritischen Situationen und Gedanken umzugehen. „An Chiara sieht man, dass betroffene Kinder und Jugendliche ganz eigene, sehr individuelle Maßnahmen brauchen“, weiß Carina Jung. Über ein Pilotprojekt hat sie mit ihren Kolleginnen und Kollegen die Erziehungshilfen der stationären Jugendhilfe am Liebfrauenhaus überarbeitet und ausgebaut, damit sie noch mehr zu den jeweiligen Bedürfnissen der Betroffenen passen und besser greifen und wirken können: Dazu können langfristig verschiedene stationäre und ambulante Module kombiniert werden. Platz für diese spezielle Wohngruppe, die aktuell in einem Übergangsbau untergebracht ist und auch so genannte „Systemsprenger“ auffangen soll, gibt es in einem Flügel des Liebfrauenhauses, der derzeit umgebaut wird. Ulrike Schwerdtfeger |
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